1995: West Side Story
Eine „Story“ mit reifer Leistung
Publikum bejubelt die neue Musical-Produktion des Helene-Lange-Gymnasiums
RENDSBURG. Farben signalisieren die Fronten: Eine der beiden Jugendgruppen trägt grüne Jacken. Die zweite Vereinigung bevorzugt rote Hemden. Doch die Symbole für Liebe und Hoffnung verbrüdern sich nicht annäht zu einem rot-grünen Bündnis. Hass und Gewalt beherrschen die Grünen wie die Roten. Die Messer werden gezogen und zerschneiden das Band der Menschlichkeit. Mit einem markerschütternden Schuss stirbt schließlich der Versuch, die Feindschaft zu begraben.
Die Lautstärke der abgefeuerten tödlichen Revolverkugel wird allerdings noch übertroffen von dem Geräuschpegel des jubelnden Publikums. Die Zuschauer feiern die Premiere der „West Side Story“ in der Version des Helene-Lange-Gymnasiums am Donnerstag Abend mit allen Formen der Beifallsäußerung: Die begeisterten Eltern, Geschwister, Freunde und Lehrer des Hela-Teams klatschen sich die Handflächen heiß, schicken bestätigende Pfiffe auf die Bühne im voll besetzten Festsaal der Freien Waldorfschule, rufen nach Zugaben und überfluten die Jugendlichen mit einer Welle der Anerkennung.
Der durchschlagende Erfolg belohnt die über 70-köpfige Hela- Mannschaft für intensiven Probenarbeiten. Knapp zwei Jahre dauerte die „Reifung“ der West Side Story. Das bekannteste Werk von Leonard Bernstein mit der zündenden Musik und dem aktualisierten Romeo und- Julia-Stoff stellt hohe Anforderungen an die Amateure des Gymnasiums. Profis von Broadway, Film, Fernsehen und Theater haben der „Story“ längst einen perfekten Stempel aufgedrückt. Folgerichtig strebten die Betreuer des Hela- Ensembles erst gar keine Kopie der berühmten Vorgaben an. Der Reiz lag für Thies Jessen. (Regie) Andreas Jung (musikalische Leitung) und Hella Mahrt (Choreographie) in der Nähe des Stoffes zu den jungen Darstellern. Hauptpersonen in Bernsteins Musical sind Jugendliche, 14- bis 18jährige Mitglieder zweier verfeindeter Straßenbanden. Die Idee, dieses Musical mit Schülern in diesem Alter in Szene zu setzen, faszinierte die Lehrkräfte. Warum sollte es nicht möglich sein, an die Stelle der Perfektion und Routine 30jähriger Musicalstars die Begeisterung und den Schwung „echter“ Jugendlicher zu stellen?
Das Fragezeichen erübrigt sich nach dem Premieren- Erfolg. Die Zuschauer erleben eine West Side Story mit der Ausstrahlung authentischer Begeisterung. Die Mitwirkenden wachsen zu einem stimmigen Ensemble zusammen. Das glänzende Team investiert eine enorme Leistung an Kondition, Wandlungsfähigkeit und Stimmvolumen. Die Stützen der Inszenierung sind gleichermaßen die Tanzszenen, die stimmlich hervorragenden Solisten, der Chor und die Live-Musik. Das Orchester, das eigens für die Hela- Story gegründet wurde, entrollt einen pulsierenden Rhythmusteppich, den Andreas Jung in seiner für die Hela- Aufführung bearbeiteten Fassung der West Side Story geknüpft hat.
„Wir haben in den vergangenen Monaten intensiv miteinander und aneinander gearbeitet.“ Regisseur Thies Jessen entlässt die Premierengäste mit einleitenden Worten in die Vorstellung. „Wir haben Theater als Wahrheit erlebt: als Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander.“ Am Ende siegen also doch Liebe und Freundschaft
HELMA PIPER
Landeszeitung, 13.5.1995