Jakob S., Q2c

Am 23. September 2021 sollte es endlich losgehen. Nach ewigem Bangen um die mögliche Absage der Studienfahrt durch die vorherrschende Pandemie oder die kurz zuvor stattfindenden Bahnstreiks war die Vorfreude und Erleichterung groß, als sich unsere Klasse in den frühen Morgenstunden am Rendsburger Hauptbahnhof zusammenfand. Bis auf die Zähne bepackt, mit Impf- bzw. Testnachweis bewaffnet und dem bevorstehenden Abenteuer entgegenfiebernd warteten wir auf unseren Zug – der so schnell erst mal nicht erscheinen sollte. Unser Direktzug nach Berlin fiel aus, was für den Moment bedeutete, dass sich die Ankunftszeit in Krakau nicht nur um ein Erhebliches nach hinten verschieben sollte, sondern dass über der Anreise am noch selben Tag ein gewaltiges Damoklesschwert schwebte.


Aus zwölf verheißenen Fahrtstunden wurden also achtzehn, die vorgesehene, geschmeidige Durchfahrt wurde zu einem gehetzten Umsteigemanöver, sowohl Lehrer als auch Schüler malten sich schon aus, wie sie die Nacht am Berliner Hauptbahnhof verbringen müssten.
Mit gegebener Verspätung, beraubten Kräften und strapazierten Nerven erreichten wir unser Ziel letztendlich doch. Sichtlich ausgelaugt und mit erschöpfter Begeisterungsfähigkeit trotteten viele Schüler aus dem Zug, nicht ahnend, was sich in wenigen Minuten vor ihnen auftun würde. Noch am Bahnhof wurden wir von unserer Reiseführerin in Empfang genommen, die ausgesprochen gut Deutsch sprach, was die Kommunikation erheblich erleichterte, zu jedem Zeitpunkt aber vor allem ausgesprochen freundlich, aufgeschlossen und wohl informiert auftrat. Nachdem sie uns alle recht herzlich begrüßt und sich selbst vorgestellt hatte, war es an der Zeit, das Gleis zu verlassen. Wie in einer Polonaise schlängelten wir uns also durch den Bahnhof, immer noch ein wenig müde und des Marschierens überdrüssig. Als wir die Untergrundstation allerdings verließen, das erste Mal die polnische Luft einatmeten und sich der wunderschöne Marktplatz Krakaus vor uns entfaltete, verpuffte jegliche Form der Lethargie. Vor Opulenz strotzende Komplexe, anmutige Nachtbeleuchtung, Pferdekutschen, gemütliche Restaurants, Taubenscharen, spielende Straßenmusiker – der Krakauer Marktplatz ist ein lebendiger Ort, der nicht an grau gehetzte Großstädte wie Berlin oder London erinnert, sondern durch seinen ausgiebigen Altbau, das hiesige Kulturangebot und die warme Beleuchtung eine ganz eigene Magie ausstrahlt. Auch wenn er von Touristen und seelenlosen Großketten durchströmt wird, äußert sich seine eigene Identität unmissverständlich. Er ist unverkennbar, einzigartig und auf seine Weise pittoresk europäisch.
Unsere Unterkunft war das „Draggo House“, ein 2-Sterne-Hotel mit unmittelbarer Nähe zum Marktplatz, das im Innenhof eine Bar, im Keller eine kleine Disco und über zwei Etagen verteilt moderne Gruppenräume zur Verfügung stellte. Frühstück gab es die Straße runter im „Camera Cafe“, das neben seinem großen Versorgungsangebot auch durch seine gemütliche Inneneinrichtung zu überzeugen wusste.
Der Marktplatz hatte eine Menge zu bieten. Jede Ecke zu erkunden, jedes Restaurant zu besuchen und das Kulturangebot in vollem Ausmaß zu erfassen war schier unmöglich. Mithilfe einer „Stadtrundführung“ bot unsere Reiseführerin uns allerdings zumindest einen groben Einblick in Krakaus wichtigstes Kulturerbe, in sagenumwobenen Bauten und die historisch relevanten Rudimente. Hierbei erfuhren wir die Bedeutung hinter dem Missverhältnis der beiden Marienkirchentürme, entdeckten die Wawel Burganlage, die auf einem hohen Hügel thronte und in der für viele Jahrhunderte die polnischen Könige residierten, und das Judenviertel, das heutzutage kaum noch Juden beherbergt, zur Zeit des Dritten Reiches aber zum Ghetto umfunktioniert wurde. Gerade das Judenviertel hinterließ einen besonderen Eindruck, da die damalige Verwahrlosung und Abgrenzung des Ortes noch bis heute spürbar ist. Besonders im Vergleich zum Marktplatz fungierte das Judenviertel durch seinen starken architektonischen Kontrast als Mahnmal und als zeitliches Dokument. Auf einem gesonderten Tagestrip besuchten wir des Weiteren die „Apotheke unter dem Adler“, die sich während der deutschen Besetzung Polens im Krakauer Ghetto befand und vielen Menschen Medizin und Sicherheit bot. Auch besuchten wir Oskar Schindlers Emaillefabrik, die heute als Museum den erschütternden Werdegang von Juden im Krakauer Ghetto und die Rettung von 1300 Juden durch Oskar Schindler porträtiert.
Befanden wir uns als Klasse gerade mal nicht auf einem gemeinsamen Ausflug, flanierten wir, meist in kleine Grüppchen zerstreut, durch die Krakauer Gassen, auf der Suche nach adäquaten Restaurants, einladenden Bars, Souvenirshops, Buchläden, Kleidungsgeschäften, bestimmten Sehenswürdigkeiten aber vor allem – Fotomotiven. Eine von Frau Uehr und Herrn Derner initiierte „Fotochallenge“ betraute uns mit der Aufgabe, verschiedenste Sujets auf eine fotografische Weise einzufangen. Das erforderte nicht nur handwerkliches Geschick, sondern vor allem ein aufmerksames, stets interessiertes Auge für alles, was um einen herum passierte. Zu fotografierende Themen waren unter anderem: Sozialismus, Nationalsozialismus, liberales sowie konservatives Polen, besondere Hauseingänge, Jugendstil, Street Art und das von Herrn Derner eingeworfene, oft diskutierte „Kafkaeske“. Gerade das letzte Motiv erwies sich als äußerst knifflig, erzeugte dadurch in vielen Fällen aber auch besondere, kreative Schaffenskraft. Jede Gruppe stellte eine breitgefächerte Collage zusammen, womit die Challenge zumindest schon mal quantitativ als bestanden galt. Frau Uehr goutierte aber auch die Qualität der Bilder, in dem sie die Challenge als „mit Bravour gemeistert“ beschrieb.
Der wohl einprägsamste und zugleich wichtigste Besuch war der im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Wieder geleitet von unserer Reiseführerin besichtigten wir zuerst das „Stammlager“, der Ort, der als Verwaltungszentrum angelegt war, und an dem im Laufe der Jahre unzählige Menschen ermordet wurden. Inhaftierte waren meist polnische Intellektuelle oder Kriegsgefangene, später wurden jene aber auch in das nahgelegene „Hauptvernichtungslager“ verlegt. Schon das „Stammlager“ war ein zutiefst erschütternder Ort. Er ist in einem nahezu tadellosen Zustand und konnte fast vollständig erhalten werden. So betrachteten wir also sämtliche Verwaltungs- und Inhaftierungsgebäude, die Wachtürme, die Massenbäder, die umrandenden Stacheldrahtzäune, die Torschrift: „Arbeit macht frei“, die sogenannte „Schwarze Wand“ und die übriggebliebene Gaskammer. Um das individuelle Leid und die tatsächliche Anzahl der an diesem Ort getöteten Menschen greifbar zu machen, stellt die Gedenkstätte Berge von Menschenhaaren, Brillen und Schuhen aus. So soll verdeutlicht werden, dass hinter jeder Strähne, hinter jedem Brillenglas und hinter jedem Schuhpaar ein Mensch mit Wünschen, Träumen und individuellem Charakteristikum gesteckt hat. Eine unglaubliche Auslöschung von Persönlichkeiten, die sich in keiner Zahl festhalten lässt. Im zweiten Teil der Besichtigung liefen wir durch den hinteren, größeren Teil des Konzentrationslagers. Hierhin wurden die deportierten Gefangenen zuerst transportiert und noch gleich an der Zugankunftsstelle selektiert. Viele starben daraufhin einen Direkttod in den Gaskammern, die anderen arbeiteten sich zu Tode. Die schiere Größe des Lagers, unzählige, heruntergekommene Hütten, in denen sich die Gefangenen zusammenpferchen mussten, die Überbleibsel der zerbombten Gaskammern und Krematorien und das am Ende gelegene Denkmal, das in verschiedensten Sprachen die Dringlichkeit vermittelt, jenes Verbrechen niemals zu vergessen – all diese Eindrücke lassen sich nur schwer in Worte fassen. Es ist ein Ort, der einen in eine andere Welt versetzt, in eine Welt ohne Menschlichkeit, ohne Hoffnung, ohne Skrupel, eine Welt, die unsereins sich kaum vorstellen kann. Uns alle hat der Besuch zutiefst ergriffen, er hat uns wachgerüttelt, uns durch seine individuellen Berichterstattungen zurückversetzt und ungeschönt aufgezeigt, welch Leid und Elend dieses dunkle Kapitel verursacht hat. Während und auch unmittelbar nach der Besichtigung war unsere Klasse wie ausgewechselt. Der sonst laute und freudige Haufen verstummte, jeder schien nach innen gekehrt, nur für sich selbst verarbeitend, was er gerade erlebt hatte. Ein Moment des stillen Erinnerns, des tieferschütternden Realisierens, des bewegten Aufarbeitens. Wir als Klasse werden diese Erfahrung wohl nie vergessen.
Neben den vor allem historisch motivierten Ausflügen besuchten wir aber auch ein riesiges, wahrlich eindrucksvolles Salzbergwerk, wagten eine Floßfahrt, die uns durch malerische Täler und über die slowakische Grenze führte und testeten gemeinsam als Klasse die ein oder andere kulinarische, traditionell polnische Spezialität. Eine Fahrt also, die wie im Zeitraffer verging, die reich an thematischen Eindrücken war und uns alle wohl noch ein wenig näher zusammengebracht hat. Schon auf der im Direktvergleich glimpflich verlaufenden Abreise erreichte viele das Fernweh. Als sich die Rendsburger Lichter von der Hochbrücke aus erblicken ließen, schien es noch völlig fremd und unwahrscheinlich, dass wir Krakau nun endgültig hinter uns ließen und das Ende der Fahrt erreicht hatten. Von endgültigem Verlassen kann aber eigentlich nicht die Rede sein, ein Teil von jedem von uns wird wohl immer in Krakau bleiben.